Mittwoch, 18. März 2015
Der letzte König, Teil II
Teil I :
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Teil II

An diesem Abend ging der letzte König ohne zu essen in seine Gemächer. Er hatte seinen Appetit schlicht vergessen. Der Fluch erzeugte nicht nur einen stechenden Schmerz voller Qualen sobald sein Name ausgesprochen wurde, sondern schon wenn der König nur an ihn dachte. Er vergiftete mehr und mehr seinen Geist, denn mit der Zeit wuchs auch die Angst, sein Reich würde nach seinem Tod von der vorhergesagten Katastrophe heimgesucht. Er wusste es nicht genau und es gab niemanden mehr, der es hätte wissen können. Die Berater des Königs übernahmen die Regentschaft und schickten ihm alle Heiler des Landes. Niemand konnte seine Schmerzen lindern. Er hörte gänzlich auf zu essen, viele Tränen rannen ihm aus seinen dunklen Augen in den Mund und bewahrten den letzten König so vor dem Tod durch verdursten. Er wollte bald niemanden mehr sehen, denn die Sinnlosigkeit seines Daseins in Schmerz zog unsagbar schwer an seinem Herzen und die mitleidigen Blicke anderer erschwerten es ihm obendrein. Er suchte verzweifelt eine Lösung und dachte immer häufiger seinen Namen, was die Schmerzen unerträglich machte. Niemand auf der Welt musste jeh solch Leid durchleben.
Absolut entkräftet, kurz vor seinem Ende, stellte sich eine seltsame Stille ein. Er wusste, es war noch nicht aus, doch etwas hatte sich geändert. Wo bis eben noch tiefste Traurigkeit und unendliche Verdammnis herrschte, war jetzt grenzenlose Milde. Schwerelose Ruhe. Entspannte Gelassenheit. Gedankenloses Nichts. Ein sanftes Lächeln der Zufriedenheit überkam sein altes, faltiges Gesicht. Die Tränen liefen wie zuvor, doch sie strahlten nun vor Klarheit. Eine Woge der Behaglichkeit nach der anderen durchströmte angenehm, belebend, massierend seinen ausgemärgelten Körper. Ein leises, kraftloses Lachen war unvermeidbar, denn der letzte König hatte die Erkenntnis erlangt, dass alles auf der Welt ein und denselben irdischen Nachnamen trägt. Alles kommt aus dem Nichts, alles geht dorthin zurück. Jeder entsteht durch Leid, jeder vergeht durch Leid. Er erkannte, dass Sorgen, Trauer, Angst und Schmerzen aus seinem Denken heraus entstehen. Erst als er sein Leid so sehr annahm, dass es ihn entgültig zerquetschte, begriff er seinen Irrtum. Der Fluch war keineswegs verschwunden, doch wann immer sein Name fiel, empfing der König den Schmerz mit einem Lächeln, was stets zur Folge hatte, dass der Schmerz sehr schnell schrumpfte. Diese und andere Lehren gab der letzte König sehr gerne weiter. Bald ging es ihm und auch dem ganzen Königreich wieder besser.
Soweit man der Geschichtsschreibung glauben kann, existierte das Land noch einige Ewigkeiten, ohne dass es von Überschwemmungen oder Erdbeben heimgesucht wurde.

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